Hallo Angelina,
Ich antworte mal etwas anders und das wird jetzt etwas länger. Wer jetzt keine Lust hat diese pseudo soziopsychologische Abhandlung zu lesen lässt es oder scrollt gleich an das Ende. Sorry - ich hab gerade mal Zeit gehabt und es ist ja bald Weihnachten
.
Meiner Erfahrung nach sind Menschen in den seltensten Fällen wirklich altruistisch unterwegs. Bei einigen die das von sich behaupten stellt sich manchmal heraus, dass es doch eher das egoistisches Konzept der Suche nach Anerkennung als die reine Selbstlosigkeit war die dahinter steht.
Wenn ich eine ganz grobe Einteilung mache müsste wie die Leute mit denen ich so zu tun habe mit meinen Problemen umgehen würde ich sagen 98% ist das ziemlich egal, die nehmen keine Rücksicht darauf und wollen das auch nicht genauer wissen. Die fehlenden zwei Prozent teilen sich in Leute die da nicht gut mit umgehen können und sich verabschiedet haben und solchen die immer mit tollen Ratschlägen kommen was ich noch probieren könnte damit es wieder besser wird und denen vielleicht wirklich etwas an mir liegt.
Ich persönlich finde es immer wieder spannend zu sehen wie Menschen „funktionieren“ - insbesondere wenn es darum geht wie sie sich Motivieren und woraus sie ihren Selbstwert ziehen. Am Ende sind das zwar oft die selben Dingen wie z.B.: Anerkennung für Leistung, geliebt werden, Status und Geld, ein toller Körper und einiges mehr - aber damit kann man spielen - und es (oder man) wird gespielt...
Dieser virtuelle „Katalog“ aus dem man sich selbst definiert bezieht sich selten auf nur eine einzige Eigenschaft. Manchmal addieren sich die Eigenschaften, machmal subtrahieren sie sich, manchmal sind es Dinge die eher in seinem selber verankert sind und manchmal braucht man zwingend andere dafür. Man kann sich z.B. selber immer wieder feiern wenn man gerade einen größeren Betrag durch ein Aktiengeschäft verdient hat oder wenn man es geschafft hat ein Marathon in seiner neuen Bestzeit zu laufen. Wenn es um liebe und Anerkennung geht wird es schwieriger - denn da sind immer andere für notwendig.
Die Art wie dieser „Katalog“ bei einem selbst gestaltet ist bestimmt stark wie man handelt und macht einen mehr oder weniger anfällig für Veränderungen oder bringt einen wenn es blöd läuft in Abhängigkeiten.
Wenn ich meine ganzes Selbstwertgefühl daraus ziehe ein super sportlicher Typ zu sein, daraus noch ein toller Körper resultiert der am Ende auch die Bewunderung anderer auf sich zieht und ich jede Flachlegen kann, werde ich möglicher weise erstmal ein massives Selbstwertproblem bekommen wenn ich den tollen Körper bei einem Motorradunfall spektakulär zerdengelt habe und danach mit schlappen Schniedel undicht im Rollstuhl sitze.
Für den smarten Bänker währe so ein Unfall auch extrem blöd - aber der würde vermutlich deutlich schneller wieder weiterzocken, sich die tiefer gelegte rote Carbon Variante mit leistungsstarkem Antrieb und die Allrad Gelände Variante mit Schlaghilfe für den Golfplatz bauen lassen und dann damit angeben wie er das alles ganz alleine trotz des massiven handicaps gemeistert hat. All das hängt massiv davon ab wie derjenige so tickt - aber mir geht ja erstmal nur darum etwas genauer auf das Thema Motivation und Selbstwert zu schauen.
Dieser „ Selbstwert-Bezugs-Katalog “ ist allerdings noch etwas komplexer - und jetzt kommen die oben erwähnten 98% der Leute in das Spiel - denn die braucht man in der Regel wenn es um Dinge wie z.B. „geliebt werden“ oder „Anerkennung bekommen“ geht. Von dem einen Prozent das sich weggedreht hat wird man das nicht bekommen und von dem anderen 1 Prozent schätzt man die Zuneigung selten weil man sie für selbstverständlich erachtet… Die restlichen 98% der Leute funktionieren nach sichtbaren und weniger sichtbaren Regeln die sich aus Kultur, Gender und der Sozialisation gebildet haben. Willkommen im Spiel.
Solange man sich in dem erwarteten Bereich bewegt ist alles Prima - wenn man eine gewisse Grenze überschreitet - warum auch immer - wird es schwierig. Auch das mit den sichtbaren und unsichtbaren Regeln ist vielleicht etwas komplizierter als man gemeinhin glaubt. Gerade die sichtbaren Gesellschaftlichen Regeln speisen sich nicht selten aus positiven oder negativen Vorurteilen und widersprechen oft den unsichtbaren „echten“.
Das fängt mit sehr einfachen aber durchaus noch verbreiteten Vorurteilen an wie „Männer müssen harte Kerle sein“ oder „Frauen sind verständnisvoll“ an und setzt sich über christliche Ideale wie z.B. „ein guter Mensch muss Hilfsbereit sein“ fort.
Der Punkt ist halt nur: Die meisten Leute sind nur in sehr begrenztem Rahmen hilfsbereit, Männer nur selten echte Kerle und allesamt oft ziemlich egoistisch unterwegs. Eine weiterer Punkt ist der, dass man diese Vorurteile super dazu benutzt kann um seine persönliche Ziele zu erreichen. Bei einigen kann das sogar zu dem „Katalog“ gehören aus dem sie ihren Selbstwert ziehen. Das funktioniert im beruflichen Kontext oft sehr bewusst und im privaten leider oft auch unbewusst.
Der Weg zum Spielerfolg führt oft über den Appell an ein vermeidliches Vorurteil: „Der Abschluss von diesem Deal ist für uns alle extrem wichtig - ich weiß das ist jetzt eine große bitte aber du würdest uns allen wirklich sehr helfen wenn du über das Wochenende noch mal die Zahlen von dem neuen Business Case durchgehen könntest und ich würde es gut finden wenn DU ihn am Montag bei der Geschäftsleitungsrunde vorstellen könntest“.
Oder: „Du sag mal - ich hab noch immer die Sommerreifen bei meinem Auto drauf. Ich hab auch Winterreifen -die liegen schon in der Garage aber als Frau hab ich da nicht so viel Ahnung wie das geht und mein Mann ist gerade auf einer längeren Dienstreise - kannst du mir da vielleicht helfen?“
Bis zu einem gewissen Grad funktioniert diese Methode prima - und je geschickter derjenige ist der solche Appelle sendet desto erfolgreicher kann er Menschen dazu motivieren Dinge zu tun die sie sonst vielleicht nicht unbedingt tuen würden. Jeder gute Verkäufer weiß das
…
Problematisch wird die ganze Sache wenn man vergisst das die meisten Vorurteile selten echte gesellschaftliche Regeln sind und man sie nicht einfach „einfordern“ kann. Das kann manchmal eine große Enttäuschung werden - insbesondere dann wenn man feststellt das jemand den man für Verständnisvoll oder hilfsbereit gehalten hat das vielleicht garnicht ist, oder das man zwar für eine Eigenschaft geschätzt wird aber nicht „für sich selber“ und wenn diese Eigenschaft wegfällt man demjenigen auf einmal egal ist.
Wenn man nicht so genau hinschaut kann man oft recht komfortabel bei dem Spiel mitspielen, Spaß haben und manchmal gewinnen. Wer dann doch unbedingt genauer hinschaut sollte in seinem eigenen „Katalog“ der Dinge aus denen er seinen Selbstwert zieht auch ein paar Sachen dabei haben die unabhängig von diesem Spiel mit anderen funktionieren - sonst wird es ziemlich schnell ziemlich schwierig …
Warum schreib ich das jetzt alles? Du liebe Angelina trägst - wenn ich das richtig beobachtet habe - ein riesiges Schild vor dir her auf dem in großen Lettern steht: „Leute ich hab ein Problem!“ Das ist für dieses Forum absolut OK - wir wollen ja alle völlig altruistisch helfen
. Für die Welt außerhalb dieses Forums möglicher weise nicht immer.
Warum funktioniert das Schild manchmal vielleicht nicht so gut? Hypothese - um erstmal in dem Spiel zu bleiben: Der Appel fehlt. Ich will mal dein Beispiel mit dem Kuchen der dir zum X’ten mal serviert wird und den du nicht verträgst als Beispiel nehmen:
Variante eins - vermutlich nicht ganz so erfolgreich: „Ich habe einfach keine Lust mehr jedes mal das gleiche zu sagen! Ihr wisst doch alle das ich eine Laktose intoleranz habe und ich vertrage diesen Kuchen nicht. Warum könnt ihr nicht wenigstens einmal auch auf mich Rücksicht nehmen??“
Variante zwei - möglicherweise erfolgreicher: „Sag mal - du kannst doch super Kuchen Backen ich wünschte ich könnte das auch so gut! Gibt es eigentlich auch Rezepte wie man so einen Kuchen ohne Laktose backen kann? Ich würde das echt gerne mal von dir lernen“
Soweit erstmal der Teil dazu wie man innerhalb des „Spiels“ vielleicht erfolgreicher werden kann. Allerdings hab ich bei dir das Gefühl, dass du möglicherweise die „Dose der Pandora“ gerade etwas geöffnet hast und vielleicht garnicht mehr nach den Regeln mitspielen willst. Noch blöder währe es vermutlich wenn du ausgerechnet aus dem „Selbstwert-Bezugs-Katalog“ den Punkt gewählt hättest, der sich auf die Menge der Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme bezieht die man von anderen bekommen kann.
Wenn das so währe - also nur so als theoretische Annahme - würde es nach dem was ich vorher als Arbeitshypothese zu dem vermeidlichen „Katalog“ und dem Umgang damit behauptet habe unter Umständen ein Problem geben: Es gäbe zwar jede Menge Methoden ein Ziel so zu erreichen. Allerdings hätten die alle den gleichen Anker und der könnte sich als Pferdefuß entpuppen: Damit jemanden Fürsorglich oder Rücksichtsvoll behandeln wird muss er - wenigstens subjektiv - der Fürsorge oder Rücksichtnahme bedürfen.
Wenn deine Wahl also auch diesen Punkt beinhaltet hat könnte es sein das da gerade ein ziemlich übler innerlicher Doublebind entstanden ist - denn man müsste ja - wenigstens subjektiv - schwach oder hilflos sein damit das ganze funktioniert.
Das blöde mit diesen Prinzipien, Vorurteilen und Regeln ist, das sie oft nur sehr selektiv funktionieren.
„Schwach und Hilflos“ als Vorurteil bei einer Frau funktioniert möglicher weise noch gut genug um den Deppen von nebenan dazu zu bewegen die Sommerreifen Reifen für lau zu wechselt, denn da kann er zeigen das er ein richtiger Kerl ist und sich mit Autos auskennt und hofft vielleicht noch insgeheim auf mehr.
Wenn er Rücksicht nehmen oder mich bedauern soll, weil ich ständig auf das Klo rennen muss dann hat er in diesem Spiel nichts davon. Er ist dann im besten Fall desinteressiert und im schlechtesten Fall genervt wenn er wegen mir bei seinen Kumpels zu spät kommt oder die auf mich warten müssen.
Bislang bewegen wir uns immer noch _im_ dem „Spiel“. Richtig Böse wird es wenn man das Spiel verlassen will und den Deckel von der Pandora Dose etwas lüpft um vielleicht einen Blick darauf zu erhaschen was es noch so gibt oder vielleicht in den nächsten „Level“ zu kommen. Das heimtückische an dieser Sache ist, dass sich sichtbaren und unsichtbaren Regeln im Lauf der Zeit verändern und es dummer weise auch immer wieder welche gibt, die für einen selber unsichtbar bleiben. Die lungern gerne in der Pandora Dose rum und warten darauf einen übel zu vergiften.
An dieser Stelle sind wir dann oft in der Vergangenheit gebunden. Was als Kind oder Jugendlicher bei den Eltern funktioniert hat nehmen wir manchmal modifiziert auch in das Erwachsenen Leben mit. Oft funktioniert das sogar gut aber manchmal sind die Wurzeln auch so merkwürdig verwoben oder ungesund das ein Konstrukt das auf ihnen basiert in der „echten“ Welt irgendwann nicht mehr tragfähig ist. Manchmal ist es sogar so, das der Körper als Begründung herhalten muss - und dann wird das ganze sehr schnell ziemlich toxisch für einen selbst.
Ich will an dieser Stelle mal abrechen denn vielleicht liege ich dem Zeug was ich hier gerade zusammengetippt habe komplett daneben und du kannst damit nichts anfangen - aber wenn doch… naja… und nein… ich bin definitiv nicht altruistisch unterwegs - meine Währung darf geraten werden
viele Grüße
Michael