Hallo Maulwurf,
natürlich hast du jegliches Recht, die Dinge so zu sehen, wie du sie siehst. Dies ist dein ureigenes und persönliches Recht. Dies streite ich dir nicht ab. Ich bedaure es, wenn deine Worte und Einstellung (in Teilen, in anderen stimme ich dir ausdrücklich zu, dazu später mehr) eine gesellschaftliche Einstellung spiegeln. Warum ich dies bedaure, möchte ich noch einmal etwas ausführlicher darstellen.
Ich spreche in meinen Beiträgen mitunter nicht nur für mich, sondern setze mich für einen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Menschen mit Behinderung ein. Ja, auch ich bin so ein kleiner Aktivist.
Ich weiß nicht, ob du die von dir beispielhaft aufgegriffenen Artikel einmal im Ganzen gelesen hast.
In Bezug auf das Mädchen, bei deren Eltern „alle Hoffnungen auf einen guten Lebensweg des Kindes zunichtegemacht wurden“ sollte man sich einmal den Zusammenhang der Äußerungen ansehen.
Dort steht:Die Sprache ist das wesentliche Kommunikationsmittel des Menschen. In der Entwicklung des Kindes ist das erste gesprochene Wort, der erste kleine Satz eines der erfreulichsten Ereignisse für die ganze Familie. Umso erschreckender ist es, wenn die Eltern erfahren müssen, dass ihr Kind taub zur Welt gekommen ist und wahrscheinlich niemals hören wird und somit keine Sprache erlernen kann. Alle Hoffnungen, die man sich als Eltern für den Lebensweg des Kindes macht, werden damit zunichtegemacht. Nicht umsonst heißt das geflügelte Wort „Sehen verbindet mit den Dingen, aber Hören verbindet mit den Menschen“.
2700
Menschen (keine Dinger!) haben sich hier im Forum über das Sehen (lesen) "verbunden". Mit nicht mehr als 50 Personen (von diesen 2700) habe ich jemals über Sprache (hören) kommuniziert. Es zeigt sehr deutlich, dass ein Umfeld die Möglichkeiten bestimmt. Schaffst du ein solches, hast du die gesellschaftlichen Barrieren überwunden.
Mit einer solchen Darstellung stigmatisiert man dieses Kind, aufgrund seiner Behinderung. Man spricht ihm von Anfang an jegliche Chance auf ein erfülltes und gutes Leben ab, weil es nicht der Norm entspricht. Ohne diese Norm, offensichtlich kein lebenswertes Leben. Es geht sogar noch viel weiter. Man spricht allen Menschen die eine Hörbehinderung oder Taubheit haben diese Chancen ab. Das Leben von Millionen Betroffenen wird in Frage gestellt, es steht dadurch die Frage im Raum, ob ein solches Leben denn überhaupt lebenswert ist.
Im Artikel wird ein solches Leben als „erschreckend“ bezeichnet, dem tauben Menschen die Fähigkeit zur Kommunikation abgesprochen und eine Isolation, abseits von der Teilhabe in und an der Gesellschaft, prognostiziert. Ob die Eltern von Ludwig van Beethoven dies wohl auch so empfunden hätten? Zugegeben, er selbst litt unter seiner zunehmenden Taubheit, schenkte der Menscheit aber keinen "schrecken" sondern fantastische Meisterwerke
Natürlich kann auch ein taubes Kind eine Sprache erlernen (Gebärdensprache ist auch eine Sprache!), kommunizieren, am Leben und der Gesellschaft teilhaben. Die Behinderung des Kindes entsteht nicht alleine durch seine Taubheit, sondern vor allem durch die gesellschaftlichen Barrieren. Sie sind ein ganz großer Teil der die späteren Behinderungen, um dies einmal wirklich wörtlich zu nehmen, ausmacht.
Stell dir einmal vor, wir würden in einer Welt leben, in der allen Grundschulkindern die Gebärdensprache gelernt würde. Alle Fernsehsendungen wären mit wählbaren Untertitel verfügbar. Veranstaltungen würden grundsätzlich auch in Gebärdensprache durchgeführt. Die durch die Gesellschaft vorhandene Behinderung wäre um ein Vielfaches reduziert. Weiter so, und gesellschaftlich die Ohren auf taub stellen, ist nicht weiter erstrebenswert.
Würden wir diese Einstellung unwidersprochen gesellschaftlich akzeptieren, würde sich sehr schnell die Frage nach Selektion – schon in den heute gegebenen Möglichkeiten der Pränatal Diagnostik – zeigen. Es gäbe nur noch Menschen die einer fiktiven Norm entsprächen. Alle anderen würde mehr oder weniger das Lebensglück, die Selbstverwirklichung und hier passt das Wort erschreckend tatsächlich, die Lebensberechtigung abgesprochen, weil sie nicht einer Norm entsprechen, die sich die Mehrheitsgesellschaft gibt.
In dem Artikel wird zwar wörtlich der Lebensweg genannt und die daraus evtl. entstehenden ungleichen Chancen hervorgehoben (die Chancen erwähne ich jetzt, der Artikel spricht diese vorneweg ab!), dabei beschreibt der Artikel vielmehr die
Vorstellungen eines Lebensmodells der Eltern und ganz offensichtlich auch des Autors dieses Artikels.
Da passt es dann evtl. nicht, dies ist aber etwas ganz anderes.
Im weiteren Artikel heißt es: "Es bleibt zu hoffen, dass Uliana auch einen guten Hörerfolg haben wird...". Dies wünscht dem Kind sicher jeder. Dann folgt aber wieder direkt an diesen Satz anschließend eine unsägliche Formulierung: "aufgeweckt und intelligent dafür wäre sie allemal". Menschen die dies also nicht erreichen, aus welche Gründen auch immer, sind daraus abgeleitet also nicht "aufgeweckt" und "intelligent" genug?
Zu deinem zweiten Beispiel mit den „Sorgenkind“ vielleicht einmal dieser Ansatz:
Gerade ein Samuel Koch steht in der öffentlichen Wahrnehmung hoch im Kurs. Er trägt, ob nun gewollt oder nicht, auch zur Bewusstseinsbildung der Gesellschaft zu und über Menschen mit Behinderung bei.
Die Aktion Mensch prägt Menschenbilder – auch deswegen kam es im Jahre 2000 zu der Namensveränderung der seinerzeitigen Aktion Sorgenkind. Dabei war der Namenswechsel damals ein heikles Vorhaben. Der Name war etabliert und hatte einen Bekanntheitsgrad von 90% in der Bevölkerung. Dem gegenüber stand der ständig anwachsende Widerstand, dass durch das so medienstarke ZDF
das Menschenbild „Sorgenkind“ gezeichnet wurde.
Der umfassende Begriff „Mensch“ wurde mit Inhalten „aufgeladen“.
Der Mensch rückte in den Mittelpunkt. Diese Namensänderung hat das Bewusstsein der Menschen nachhaltig verändert.
Wenn mir ein Mensch gegenüber äußert, er wolle mit mir nicht tauschen, empfinde ich dies als bodenlose Frechheit. Gerade wenn mich dieser Mensch gar nicht genauer kennt, hat er mich durch eine solche Aussage auf meine offensichtliche Behinderung als Rollstuhlfahrer reduziert.
Es mag ja sein, dass dies mehr als eingebildet klingt, aber ich halte mich für einen ganz wunderbaren Menschen.
Ich besitze: Aufgeschlossenheit, Einfühlungsvermögen, Empathie, Initiative, Kontaktfähigkeit, Kreativität, Organisationsfähigkeit, Selbstkritik, Selbstsicherheit, Sensibilität, Urteilsvermögen, Weitblick, die Fähigkeit zum Zuhören und Zuverlässigkeit.
Und dann kommt Jemand, sieht meinen Rollstuhl, und sagt: Mit dir möchte ich nicht tauschen? Frag dich einmal, ob du mit einem solchen Menschen tatsächlich tauschen wolltest?
Würde mich dieser Mensch nicht auf ein einzelnes Merkmal reduzieren, würde er die Unverschämtheit und den groben Unsinn seiner Aussage schnell verstehen und revidieren. Darüber solltest du auch einmal nachdenken, du reduzierst dich durch die Annahme und Identifikation mit einer solchen Aussage ja selbst am meisten.
Wenn du lieber „ja, beschissene Situation“ über dein Leben hörst, dann werde ich dies nicht ändern können. Ich bedaure es aber, dass du ganz offensichtlich den Leidfaktor für dich so sehr in den Mittelpunkt deines Lebens stellst.
Wir sind nicht alle „Superhelden“, wie Koch, der Aktivist Krauthausen oder die Stabhochspringerin Grünberg. Nein, wir sind auch Menschen mit Schwächen und dürfen auch einmal unsere Lebenssituation hinterfragen, bedauern und mitunter auch beweinen. Keiner der Aufgeführten hält dies anders, manchmal wird eben heimlich geweint. Da unterscheiden wir uns nicht von den „normalen“ Menschen, die tun dies nämlich auch!
Gruß
Matti