Interview:
Herr Dr. Nosal, bitte stellen Sie sich kurz vor.
Ich arbeite als leitender Oberarzt im Elisabeth-Krankenhaus Essen und leite die Kontinenz- und Beckenbodensprechstunde. Ich bin zertifizierter Kontinenzberater der Deutschen Kontinenzgesellschaft (DKG) und habe die AGUB II-Zertifizierung (Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion)
Welche Patientinnen sehen Sie in Ihrem Klinik-Alltag?
Wir behandeln 600 Patientinnen jährlich in unserer urogynäkologischen Sprechstunde. Dabei können wir mehr als der Hälfte der Patientinnen durch konservative (nicht operative) Angebote helfen. Dazu gehören Beratung und Anleitung zum gezielten Beckenbodentraining, Verordnung von Medikamenten bei Harninkontinenz, Vermittlung von Heimgeräten sowie Kontinenztampons und Hilfsmittel wie Pessare bei Genitalsenkung. Grundlage ist ausführliches Gespräch, ein Beckenbodenultraschall sowie mögliche ergänzende Durchführung einer Blasen- und Harnröhrendruckmessung (sog. Urodynamik). Dabei behandeln wir sowohl junge als auch ältere Frauen.
Welche Symptome / Beschwerden haben diese Frauen?
Zunächst unterscheiden wir zwischen Senkungs- und Kontinenzbeschwerden. Eine Patientin, die beides aufweist, erhält zunächst eine Korrektur der Beckenbodensinstabilität und dann zweizeitig eine Korrektur der Harninkontinenz. Im Bereich der Harninkontinenz unterscheiden wir zwischen Drangsymptomatik durch ungewollte Blasenkontraktionen und einer Harnröhrenverschlußschwäche im Sinne einer Belastungsinkontinenz. Wenn medikamentöse Ansätze bei der Drangsymptomatik nicht helfen, bieten wir die Botoxtherapie an. Im Bereich der Belastungsinkontinenz bieten wir drei operative Therapien an, das TVT-Band (Tension free vaginal tape -spannungsfreies Band-), die minimalinvasive laparoskopische Kolposuspension nach Burch per Bauchspiegelung sowie die Unterpolsterung der Harnröhrenschleimhaut mit Bulkamid-Gel.
Woher kommen diese Beschwerden?
Die Ursachen sind vielfältig. Millionen Frauen in Deutschland leiden an Harninkontinenz. Früher hat man den Frauen gesagt, dass dieses Krankheitsbild zum Älterwerden dazu gehört. Heute wollen die Frauen nicht mit Vorlagen leben und auf bestimmte Tätigkeiten aus Angst vor Urinverlust verzichten.
Die Altersspanne ist sehr weit. Unsere jüngste Patientin war 25 Jahre alt, die älteste 96 Jahre alt. Bei Frauen unter 50 sind die Ursachen häufig ein schwacher Beckenboden, eine vererbte Bindegewebsschwäche und Geburten. Frauen älter als 50 Jahre bekommen häufig Probleme mit der Inkontinenz, sobald sie in die Wechseljahre kommen, da sich das Bindegewebe durch den Hormonmangel verändert. Frauen über 70 haben häufig „Alterserscheinungen“ wie eine schwache, anfällige Blase oder einen schwachen Harnröhrenverschlußmuskel. Auch Übergewicht kann eine Rolle spielen. Daher sollte man sich bei der Untersuchung und Beratung individuell auf die Situation und die Risikofaktoren der Frau einstellen. Eine Standardtherapie gibt es nicht, sondern eine individuell angepasste Therapie.
Wie beraten Sie Ihre Patientinnen? Wird die Patientin in die Entscheidung mit einbezogen?
Wir lassen uns auf die jeweilige Situation ein. Was sind die Beschwerden, wann treten Sie auf, stört die Harninkontinenz die Frau überhaupt? In diesem Rahmen versuchen wir zunächst konservative Lösungsvorschläge zu geben durch Veränderung einzelner „Stellschrauben“ Abhilfe zu schaffen wie lokale Hormone im Genitalbereich, Medikamente, Beckenbodenübungen, Hilfsmittel. Erst wenn diese nicht den gewünschten Erfolg brachten, gehen wir auf die operativen Möglichkeiten ein. Dabei beraten wir die Frau nach Ihrer individuellen Erwartungshaltung und dem objektiven erwarteten Erfolg. Diesen kann man nach unseren Untersuchungen und unseren Erfahrungen gut abschätzen. Wichtig ist, dass die Patientin in die Entscheidungsfindung einbezogen wird und alle Möglichkeiten der operativen Therapie mit Ihren Vor- und Nachteilen sowie mit möglichen unerwünschten Wirkungen erläutert werden.
Wo sind die Unterschiede der Behandlungen?
Das TVT -Verfahren gilt in Deutschland als Standardmethode. Die Erfolgsquoten sind bei bestimmten Patientinnen hoch. Die Methode kann aber auch einige Beschwerden verursachen. Es handelt sich um ein Kunststoffband, welches in den Körper einwächst. Es kann Nerven reizen und Schmerzen verursachen. Es kann darüber hinaus nach einiger Zeit nicht mehr an der richtigen Stelle sitzen und somit unwirksam werden oder sogar den Urinfluss behindern, was dann in einem Harnverhalt münden kann. Dann muss es teilweise entfernt werden, was sehr aufwendig werden kann.
Vor der Zeit des TVT-Bandes war die Kolposuspension nach Burch die Standardtherapie. Dabei hatte man einen Bauchschnitt durchgeführt und die Scheide mit der Harnröhre von innen mit Fäden angehoben. Durch eine Weiterentwicklung kann man diesen Eingriff inzwischen minimal-invasiv mittels Schlüssellochtechnik durchführen und auf einen Bauchschnitt verzichten. Komplikationen können auftreten, wenn die Fäden zu stramm oder zu locker gezogen werden. Des Weiteren kann durch die Verstärkung des vorderen Scheidengewölbes eine Schwächung und somit zunehmende Senkung des mittleren (Gebärmutter, Gebärmutterhals oder Scheidenstumpf) oder hinteren Scheidengewölbes entstehen.
Eine weitere Möglichkeit besteht in der minimal-invasiven Unterpolsterung der Harnröhre. Dadurch muss der Verschlussmuskel nicht mehr so viel Kraft aufwenden, um dicht zu bleiben. Es muss hierbei kein Schnitt wie bei den anderen beiden Operationen erfolgen, sondern mittels Kamerasicht wird das Gel mit einer dünnen Nadel in die Harnröhre gespritzt. Den Eingriff kann man sogar ohne Narkose in einer sogenannten Lokalanästhesie durchführen. Auch wenn die Erfolgsraten nicht so hoch sind wie bei den anderen beiden Operationsschritten, hat das Bulkamid einen hohen Stellenwert, denn es gab bisher keine nennenswerten Komplikationen. Es ist gut verträglich und wird vom Körper mit Bindegewebe durchwachsen. Sollten die üblicherweise verwendeten 2ml nicht reichen, kann man – nach erneuter Ultraschalluntersuchung- weiteres Gel spritzen.
Was überzeugt Sie und Ihre Patientinnen von der Behandlung mit Bulkamid? Wie viele Patientinnen haben Sie bis dato mit Bulkamid behandelt?
Da der Eingriff in der Regel nicht länger als 10 Minuten dauert und in Lokalanästhesie durchgeführt werden kann, liegen die Vorteile auf der Hand. Im Gegensatz zu den anderen beiden Behandlungen gibt es quasi keine Komplikationen. In seltenen Fällen ist in den ersten Stunden eine Entleerung der Blase mittels Einmalkatheter notwendig. Deshalb wird der Eingriff bisher unter stationären
Bedingungen durchgeführt mit einer Nacht Verbleib in der Klinik. Weitere Vorteile liegen in der Möglichkeit des Nachspritzens und damit Optimierung des operativen Erfolgs. Die Frauen genesen schnell, Schmerzmittel werden in der Regel nach der Behandlung nicht benötigt. Wir haben seit 2017 über 200 Bulkamid Behandlungen durchgeführt.
Wie wird die Behandlung durchgeführt? Wie ist die Heilung/Verbesserung der Patientinnen nach dem Eingriff?
Die Behandlung erfolgt unter stationären Bedingungen. Bei uns in Essen übernehmen die Krankenkassen die Leistung. Auch wenn die Erfolgsquote nach der ersten Behandlung nicht denen der beiden anderen Methoden entspricht, kann man bei nicht ausreichender Unterpolsterung nach dem ersten Eingriff noch einmal gezielt Gel nachspritzen.
Welchen Stellenwert hat Bulkamid in der Behandlung von Belastungsinkontinenz In Ihrer Abteilung?
Wir sind froh, dass wir alle drei Methoden in unserer Klinik anbieten können. So kann individuell die richtige Methode für die Harnröhrenverschlußschwäche ausgewählt werden. Nach eingehender Aufklärung wünschen die meisten Frauen eine komplikationsarme Therapie und greifen deshalb zunehmend auf das Bulkamidverfahren zu
Ist Bulkamid eine Kassenleistung?
Bulkamid wird von den Krankenkassen als Therapie der Belastungsinkontinenz anerkannt.
Was raten Sie betroffenen Frauen?
Wichtig ist, dass die Frauen das Thema bei ihrem Frauenarzt, Hausarzt oder Urologen ansprechen, denn eine dauerhafte Harninkontinenz muss nicht sein. Sie betrifft Frauen aus allen
Gesellschaftsschichten mit zunehmendem Alter. Der behandelnde Arzt sollte die Frau über alle Möglichkeiten mit den erwarteten Erfolgsaussichten und möglichen Komplikationen beraten. So stellt man sicher, dass es nach der Behandlung zu einer hohen Zufriedenheit kommt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieses Interview wurde uns freundlicherweise von der Contura Deutschland GmbH zur Veröffentlichung freigegeben.