Einspruch, euer Ehren!
ja für alle ist unsere Behinderung belastend und das für einige von uns seit Jahren. Das steht außer Frage. Und deshalb sind wir auch hier. Jeden beschäftigt sein „spezielles“ Problem überwiegend 24 Stunden am Tag. Das ist nun einmal so und wir mussten damit lernen umzugehen.
Aber wohin mit meinem eigenen Leid?
Nun das hier ist rechtens ein offenes Inko-Forum für Betroffene, ich akzeptiere das, aber es bleibt dennoch überwiegend ein Anonymes. Du bist kein Mitglied bei uns, sonst könnten wir gern im internen Vereinsforum meine und deine Ansichten privater miteinander teilen.
Was du brauchst ist professionelle Hilfe von Einrichtungen die dafür zuständig sind.
Hallo Sabine,
wenn Waldemar schreibt, dass „unsere“ Behinderung für uns alle belastend sei, dies außer Frage stehe und uns unser „spezielles“ Problem 24 Stunden am Tag beschäftigen würde, dann ist dies vor allem seine persönliche Sichtweise und Darstellung.
Für
mich spricht er mit dieser Darstellung eindeutig
nicht!
So findet unser Erfahrungsaustausch zu 95% im offenen und öffentlichen Forenbereich dieses Vereinsangebotes statt und dies ist auch unbedingt gewollt so.
Die Annahme und die Behauptung Menschen mit Behinderung würden grundsätzlich „leiden“, ist aus meiner Erfahrung und vor allem durch mein persönliches Erleben als Mensch mit Behinderung grundlegend falsch.
Zwar können Beeinträchtigungen Leid verursachen, doch das allein bestimmt nicht das Leben mit Behinderung und schon gar nicht 24 Stunden am Tag. Durch eine Reduzierung auf die Defizite und durch die Dramatisierung des „Tragischen“ entsteht ein verzerrtes Bild, das verunsichert und Angst vor Behinderung fördert. Dennoch sind diese Klischees offensichtlich sehr beliebt.
Durch meine langjährige Behinderung haben sich meine Werte und Ziele positiv verändern. Meine Behinderung ist somit nicht nur „Schicksal“, sondern auch Gewinn.
Vor 14 Tagen traff ich mich mit 11 wunderbaren Menschen zur Vereinsfreizeit in Berlin. Dies geschieht meistens nicht trotz Behinderung sondern mit ihr.
Behinderung ist für viele Menschen ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Nicht sie behindert, sondern die Einstellungen anderer und eine nicht barrierefreie Umwelt. Diese sollte man zum Hauptthema machen.
Beispiel:
Eine Frau mit Contergan-Schädigungen und verkürzten Armen führt ihren kompletten Haushalt durch die Fähigkeit ihre Füße als Hände zu nutzen. Sie fährt Auto, ist berufstätig und wicklet selbst ihr Kind mit den Füßen.
Frage:
Wer ist eigentlich behindert? Kann jemand von uns dies mit seinem Füßen? Sind wir gegenüber dieser Frau nicht eigentlich die Behinderten?
Alles eine Frage der Sichtweise!
Im übrigen ist dies kein fiktives Beispiel, sondern ein Mensch aus meinem Bekanntenkreis! Sie hat mir selbst diese Frage gestellt.
Ihr gegenüber (dies trifft auch auf mich selbst zu) wird oftmals begegnet:
Zum „schweren Schicksal“ gehört fast automatisch das Überwinden, Bewältigen oder „Meistern“ der Behinderung. Gerne auch auf „tapfere“, „mutige“ oder „bewundernswerte“ Weise. Ein „normales Leben“ mit Behinderung ist für viele unvorstellbar – und kommt es doch vor, gleicht es einem „Wunder“. So jemand „muss“ übermenschliche Kräfte haben, ein „Held“ sein oder ein Heiliger. Auf jeden Fall etwas Besonderes.
Ist sie, bin ich dies? Ganz sicher nicht! Weder sie noch ich sind übermenschliche Helden. Wir sind Menschen, die aus ihren Möglichkeiten ein normales Leben führen. Ohne tägliches Leid und ohne uns täglich damit auseinander zu setzen.
Andere setzen sich allerdings täglich mit
unserem Leben auseinander.
Das Ziel dieses Vereines ist
nicht das gemeinsame (miteinander) Leiden.
Dies schließt nicht aus, dass es durchaus auch leidvolle Phasen im Leben gibt. Dann sind wir im Idealfall füreinander da.
Wir haben ein gemeinsames Symptom, viele Teilen eine Krankeit oder eine Ursache. Wir sind aber
keine "
Leidensgemeinschaft" im wörtlichen Sinn, die sich gegenseitig
in ihrem Leid stärkt und dieses damit im schlimmsten Fall erst fördert.
Dies wäre ja die Bestätigung der Argumente und Vorbehalte, die manche Menschen gegen Selbsthilfe hervorbringen.
Das Gegenteil ist Vereinsziel! Es geht darum, Wege aufzuzeigen, wie man mit Symptom, Krankheit und Behinderung ein gutes Leben führen kann. Genügend positive Beispiele sind hier zu finden.
Wir benötigen auch keine abgeschotteten Institutionen oder Einrichtungen, wo Menschen separiert werden. Gesellschaftliche Aufgabe ist die Inklusion (in die Gesellschaft) nicht die Separation!
Wir haben unsere Zielsetzung und unser Angebot in einigen Kernaussagen zusammengefasst und stellen diese auch seit Jahren auf unserer Webseite gut sichtbar vor:
- Hier trifft man Menschen, denen es genau so oder ähnlich geht, die sich genauso oder ähnlich fühlen. Selbsthilfe ermöglicht es,
sich gegenseitig zu unterstützen. Denn gemeinsam ist man stärker.
- Hier werden Sie
nicht bemitleidet, sondern wirklich verstanden.
- Hier werden Sie konkret
unterstützt.
-
Hier fühlen Sie, durch die Geschichte anderer, wieder eine Perspektive.
- Hier bekommen Sie
Informationen zu Ihrem Problem.
- Hier bekommen Sie Tipps im Umgang mit Ärzten, Krankenkassen und der Bürokratie.
Daraus wird ersichtlich, dass es hier nicht um das gemeinsame Leiden (im wörtlichen Sinn), sondern um die gegenseitige Unterstützung, die konkrete Hilfestellung geht. Aus der eigenen Betroffenheit, Lösungswege aufzeigend und Handlungsempfehlungen aussprechend. Einfach einmal für den anderen da sein, ein
offenes Ohr, ein offenes Gespräch.
Waldemar schrieb:
Du bist kein Mitglied bei uns, sonst könnten wir gern im internen Vereinsforum meine und deine Ansichten privater miteinander teilen.
Natürlich freuen wir uns über jedes neue Vereinsmitglied, weil es unsere Gemeinschaft stärkt. Wir ziehen uns aber im gegenteiligen Fall nicht in unser geschütztes „Schneckenhaus“ eines internen Forenbereichs für Vereinsmitglieder zurück. Die wahre Stärke unseres Angebotes ist der gegenseitige Erfahrungsaustausch, auf Wunsch anonym,
aber öffentlich. Aus diesem Handeln ist auch ein unglaubliches Wissensarchiv entstanden. Ein Umstand und gleichzietiger Vorteil, den keine regionale Selbsthilfegruppe bieten kann. Muss sie auch nicht, ihre Vorteile liegen ganz wo anders. Deshab ergänzen sich unterschiedliche Angebote auch so hervorragend und manchmal verschmelzen sie sogar.
Wäre ich so kritisch wie Waldemar, könnte ich den Stuhlkreis hinter geschlossenen Türen, welchen er favorisiert, auch hinterfragen. Durch 10 jähriges leiten einer Selbsthilfegruppe vor Ort, kenne ich aber den Wert dieser Gruppen und akzeptiere ihn nicht nur, sondern begrüße diese Form von Selbsthilfe ausserordentlich. Mitunter haben beide Formen Schattenseiten. Dies ist hier nicht anders, wie in der Gruppe vor Ort.
Nein, wir nutzen die
öffentliche Stärke unserer Gemeinschaft. Wir holen Menschen dort ab, wo sie sich gerade in ihrer Lebenssituation befinden. Dafür benötigt es keine geschlossenen Gruppen (weder vor Ort noch online)!
Das sich unser Vereinsangebot so entwickelte, wie es sich entwickelt hat, ist vor allem den Bedürfnissen der Betroffenen geschuldet und wird ihnen somit gerecht. Ursprünglich war das Online-Angebot nämlich nur ein ganz kleiner Teil unseres Angebotes. Nun erreichen wir aber durchschnittlich
3000 Menschen täglich. Welche Vorgensweise und welches Medium kann dies von sich in der Vergangenheit behaupten?
In hundert Jahren Tätigkeit vor Ort hätten wir niemals eine so große Zahl an Betroffenen erreichen können.
Waldemar handelt in seinem Engagement bewundernswert. Neben seiner Tätigkeit in der Selbsthilfegruppe vor Ort, engagiert er sich hier online und bietet zudem Information und Hilfestellung durch Vorträge in und für die interessierte Öffentlichkeit regional und persönlich. Er ist quasi die Verkörperung des Ideals von Engagement in der Selbsthilfe. Extrem lobenswert!
Manchmal neigt er allerdings aus meiner Sicht dazu, sich in seinem Engagement nicht zu spiegeln. Dann wird es wertend und bewertend. Es gibt viele Wege der gegenseitigen Hilfestellung,
der Hilfe zur Selbsthilfe.
Die eine Form ist nicht schlechter als die Andere. Sie unterscheiden sich mitunter in ihrer Herangehensweise, aber nicht im
gemeinsamen Ziel!
Sollte sich jemand die Frage stellen, ob diese Diskussion nun unter den Titel "Mein Hobby" passt und geführt werden sollte: Ja, sollte sie. Solange ich mein Engagement hier ehrenamtlich betreibe, sehe ich dies zwar primär als meine Profession
* an, aber auch als mein Hobby.
Gruß
Matti
*Profession
Mit „Profession“ bezeichne ich den Vorgang der "Verberuflichung" meiner Tätigkeit, und zwar dann, wenn diese Tätigkeit als gesellschaftlich notwendig anerkannt wird und wenn die darin Tätigen über ein besonderes Wissen und besondere Fähigkeiten verfügen, die sie nur über einen länger dauernden Lernprozess erwerben können.