Hallo Matti,
mein Bruder erhält augenblicklich zwei bis drei Mal pro Woche Physiotherapie, und ein Mal Ergotherapie. Da ich gerade den Neurologen wechsle, muss ich mich erneut um die Logopädie kümmern. Ich sehe es als ein Problem an, dass Neurologen (so wie die meisten Fachärzte) in der Regel nicht Hausbesuche machen. Augenblicklich hat - auf Empfehlung des Pflegeheims - Pitt zwar einen Neurologen, der bei ihm Kurzbesuche macht - die sind aber so kurz und ohne vorherige Ankündigung, dass ich ich noch nicht zu fassen bekommen habe. Selbst die behandelnde Hausärztin sagt, dass sie es nicht schaffen würde, ihn ans Telefon zu bekommen, weil er eine sehr große Praxis habe, sie kommunizieren dementsprechend nur über Faxe. Das finde ich keine tragbare Situation. Das Schlimme ist, dass einen jeder Arzt eigentlich spüren lässt, dass mein Bruder ein Patient ist, der lediglich sein Budget belastet. Ich bin immer wieder gezwungen durch Praxisbesuche, dies oder jenes für Peter zu erreichen. So habe ich durch eine ganz simple Excell-Liste, in der ich die aktuellen Medikamente aufgeführt hatte (den Zeitpunkt der Verordnung, Einnahmezeiten, Nebenwirkungen etc.) eine Bewußtsein schaffen können, dass drei (3!) blutdrucksenkende Mittel zu viel sind. Das für eine Woche daraufhin durchgeführte Bluddruck-Profil hat das bestätigt. Ähnlich war es mit einem verordneten Muskelrelaxan (Lioreasal), das Pitt völlig apathisch und müde gemacht hat, ohne in irgend einer Weise die Spastik seiner linken Hand zu verbessern. Erst wenn ich die zugehörige Studie ausdrucke, auf den Tisch lege und verlange, dieses Mittel abzusetzen und eventuell an Botox zu denken (Botox ist viel teurer!), geschieht etwas. --- Das ist für mich neben Beruf und Familie sehr schwierig durchzuhalten.
Das Pflegeheim ist sehr bemüht, überall sich zu engagieren. Einerseits ist dieses Heim baulich sehr schön ist, fast wie ein luxuriöses Hotel, Peter hat ein sonnendurchflutetes Zimmer, es stinkt nicht überall nach Urin, weil viel gewischt wird (das hatte ich schon völlig anders erlebt). Im Sommer sind die Aufenthaltsräume klimatisiert, überall stehen zum Selbstzapfen gekühlte Säfte in Geräten, daneben Mineralwasser. Der Tagesablauf ist normal: gemeinsame Mahlzeiten an einem Tisch, an dem es manchmal auch zu richtigen Konversationen kommt, weil die Mischung zwischen beginnend Dementen und "nur" körperlich eingeschränkten Bewohnern stimmt. Die Pfleger haben zwar wenig Zeit, aber die Atmosphäre ist dennoch meist gut. Mein Bruder muss beim Essen geholfen werden, an manchen Tagen mehr, an manchen Tagen weniger. Aber da z.B. fängt meine Kritik an: meist wird er einfach rasch abgefüttert, anstatt das Essen angereicht. Der Impetus, ihn zur Eigenständigkeit zu ermuntern, ist manchmal sehr schwach ausgeprägt.
Die Körperpflege funktioniert gut. Da ich die Wäsche meines Bruders selbst wasche (damit sie besser duftet und nicht verloren geht
) kann ich sehen, dass sie ihm auch wenn ich nicht da bin, das Shirt/den Pulli oder was auch immer oft genug wechseln, wenn er viel schwitzt. Er wird sofort frisch gemacht, wann immer es nötig ist. Die Nägel sind gepflegt, er ist immer frisch rasiert (das kenne ich auch ganz anders) und er macht insgesamt einen gut gepflegten Eindruck. Der Ton mit ihm ist mittlerweile sehr vertraut und scherzend, Peter scheint das zu gefallen (aber er beschwert sich leider sowieso über nichts, leider).
Man gibt sich auch Mühe, mir Dinge abzunehmen: ist der Rollstuhl kaputt, kümmert man sich eigenständig um Reperatur und sorgt für Ersatz (das kenne ich auch ganz anders), die Pfleger haben ein Auge, dass der Physiotherapeut auch tatsächlich seine Stunden nachholt, wenn sie mal verschoben worden sind, man versucht die ärztlichen Anordnungen sofort umzusetzen (es existiert ein eigenes PC-Programm, mit dem die aktuelle Situation des Patienten einzusehen ist), ich habe den Eindruck gewonnen, dass Pitt alle Medikamente regelmäßig bekommt (auch das kenne ich vom vorhergehenden Heim anders, wo Antibiotika einfach mal vergessen wurden, mit der Folge, dass ich Pitt mit einer beginnenden Urosepsis nachts vom Notarzt in die Klinkik habe einliefern lassen).
Das soziale Betreuungsteam ist sehr engagiert in diesem Heim. Es gibt mehrere Veranstaltungen (Zeitungsrunden, Liedrunden, Bewegungsmotivationen etc.), zu denen die Bewohner regelmäßig abgeholt werden. Darüberhinaus wird z.B. mein Bruder, der augenblicklich ja fast nur im Bett liegt, täglich von den unterschiedlichen sozialen Betreuern besucht. Sie bringen ihm CDs mit seiner geliebten klassischen Musik mit, unterhalten sich, lesen ihm was vor und sind mit ihm auch schon an die frische Luft gegangen, als er noch im Rollstuhl sitzen durfte.
Was mir fehlt, ist Einfühlungsvermögen. Ich wünsche mir, dass die berufliche Distanz zu den Heimbewohnern nicht so groß ist, dass man in ihnen nur noch Objekte, anstelle des Individuums sieht. Ich wünschte mir, so manch kleine Lieblosigkeiten, die nur auf Gedankenlosigkeit beruhen, würde es nicht geben. Ich wünschte mir, dass gehandicapte Menschen, wie mein Bruder, in erster Linie als Mensch, und in zweiter Linie als gehandicapter Mensch gesehen werden.
Meine augenblickliche Verzweiflung beruht auf dem augenblicklichen Stillstand durch den Dekubitus. Peters psychosozialer Entwicklung schadet die Isolation. Es schadet ihm nicht von den Tischnachbarn angesprochen zu werden, weil er alleine im Zimmer die Mahlzeiten einnimmt. Die Physiotherapie leidet darunter, der Ergotherapeut sagt, es wäre nicht so schlimm, wenn er im Bett bleiben solle.
So Matti, jetzt habe ich Dir einen kleinen Einblick gegeben. Und es ist für mich höchste Zeit, den PC wieder zu verlassen.
Danke für Dein Eindenken in meine/unsere Probleme.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Christiane50