Hallo,
ich habe gelernt, dass es selten gut ist mit Emotion auf einen Beitrag zu antworten. Deshalb schlafe ich in der Regel wenigstens eine Nacht über meine Antwort, gerade wenn ich persönlich angesprochen wurde. Allerdings möchte ich hier einmal eine Ausnahme machen, weil die Anzahl der Antworten in recht kurzer Zeit, mir meine Antwort sonst immer schwieriger macht. Meine Antwort möchte ich primär an RuthElisabeth richten, hier scheint mir der größte Diskussionsbedarf.
Liebe RuthElisabeth,
dein Hinweis auf deine Inkontinenzform und den damit verbundenen Folgen ist wichtig. Er ist es vor allem vor dem Hintergrund, dass ausnahmslos
alle
Mitglieder die dir geantwortet haben, ebenfalls eine neurogene Blase haben! Sie dürften also deine Situation aus persönlichen Erleben nachvollziehen können. Der große Unterschied zwischen den Betroffenen scheint aber das management der Erkrankung zu sein. Deshalb ist es vielleicht gar nicht so unsinnig sich ein mal mit den Erfahrungen der Anderen auseinanderzusetzen. Sie scheinen ja alle
nicht die Folgen, wie beispielsweise die von dir beschriebene
sichtbare öffentliche Blasenentleerung zu haben.
Dein Hilfsmittel scheint auf jeden Fall deiner Inkontinenzform nicht angepasst zu sein. Sprich: Es ist für die Menge und Form deiner Urinentleerung unterdimensioniert. So einfach ist das.
Mit management meine ich, dass du eine neurogene Blase auch wie eine neurogene Blase "behandeln" must. Würdest du beispielsweise nicht darauf warten, bis sich deine Blase völlig unkontrolliert selbstständig entleert hättest du dieses "Ampelproblem" erst gar nicht. Du kannst die Krallen wieder einfahren, weil jetzt meine Erklärung folgt
Würdest du vor deiner Heimfahrt Selbstkatheterismus betreiben, währe deine Blase leer und würde spielend eine Heimfahrt und den Nachhauseweg garantieren. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage ob deine Nierenschädigung unmittelbar mit deiner Blasenentleerungsstörung in Verbindung steht. Wenn dies der Fall ist, dann sind dies bereits Folgen deines Fehlmanagements der Blasenentleerung. Hohe Drücke in der Blase sind "gift" für die Nieren. Die Todeursache nummero uno noch vor gut 50 Jahren bei Querschnittgelähmten (die alle eine neurogene Blase haben!).
Ich möchte bestimmt hier keine Wertungskala für das persönliche Schicksal aufführen. Du hast mich aber persönlich angeschrieben, wenn ich wüsste wie sich eine neurogene Blase anfüllt bzw. welche Folgen dies habe, würde ich dies anders beurteilen. Mit 29 Jahren habe ich die Diagnose Multiple Sklerose erhalten, mit 32 Jahren wurde ich Rentner, mit 33 Rollstuhlfahrer, mit 34 zum Pflegefall. Ich glaube
ich kann deine Situation beurteilen und nachvollziehen! Wahrscheinlich werde ich in den nächsten 10 Jahren meine Selbstständigkeit zum größten Teil verlieren, evtl. die Fahigkeit zur Selbstbestimmung. Ich habe im Übrigen damals für eine Berufstätigkeit gekämpft, nicht für die Rente. Und ehute "kämpfe" ich jeden Tag für meine Selbstständigkeit, weil dies ganz entscheident meine Lebensqualität beeinflusst.
Bei Sätzen wie "alle hier im Forum" werde ich schnell allergisch. 1450 Mitglieder hat dieses Forum. Fünf bis sechs haben dir geantwortet. Wie kommst du auf die Idee der Sippenhaftung.
Nun noch einmal etwas zum ewigen Thema der Tabuisierung. Von meiner Seite kann doch gar kein anderes Statement kommen, als das von mir abgegebene. Wir betreiben doch dieses Forum (daneben gibt es auch noch einen Verein, der mehr Zeit in Anspruch nimmt als dieses Forum) nicht um Inkontinenz weiter in der Schmudelecke zu lassen. Es geht bei unserem Vereinsziel doch primär um die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. Wir sind keine Mediziner. Deshalb steht doch nicht die Einflussnahme auf Therapien im Vordergrund, sondern das Streben nach Normaität mit der Erkrankung.
Ein Beispiel: 40 jährige Frau, 3 Kinder. Nach der letzen Geburt zunehmend inkontinent.
Verhalten 1: Frau schämt sich. Geht nicht zum Arzt, verwendet Binden für die Monatshygiene. Der geliebte Einkaufsbummel mit den Freundinnen wird immer häufiger abgesagt, aus Angst vor den Folgen der Blasenschwäche. In der Partnerschaft läuft es immer schlechter, weil Intimität immer weniger stattfindet. Verantwortlich dafür ist die Scham vor dem Partner, dem sich die Frau natürlich nicht anvertraut. Es kommt zu ersten Problemen im Job, weil ein ständiger Uringeruch vorhanden (aufgrund der völlig falschen Hilfsmittel!) ist. Zudem kommen es immer wieder zu Fehlern in der Tätigkeit, weil der Kopf nicht frei ist. Alles dreht sich um die Blase, die Erreichbarkeit der nächsten Toilette.
Um es einmal abzukürzen: Am Ende hat sich der Partner eine Freundin genommen, die Ehe ist gescheitert. Aufgrund der Lebenssituation nimmt die Isolation immer weiter zu, die Frau wird depressiv.
Verhalten 2: Frau nimmt die körperlichen Signale ernst und geht zum Arzt. Dieser stellt eine Belastungsinkontinenz fest und verordnet ein Beckenbodentraining. Der Partner wird eingeweiht und zeigt großes Verständnis, gerade weil sie nicht nur seine Frau sondern vor allem auch die Mutter der gemeinsamen Kinder ist, deren Geburt und Schwangerschaft diese Inkontinenz zur Folge hat. In einem persönlichen Gespräch mit der besten Freundin erfährt die Frau das ihre Freundin vor einigen Jahren selbst an Inkontinenz gelitten hat. In der Apotheke erhält die Frau die richtigen Hilfsmittel. Dadurch muss sie sich sogut wie nicht einschränken, weil sie diskret und geruchneutralisierend sind. Das Beckenbodentraining zeigt nach einem halben Jahr gute Erfolge, nach einem Jahr hat die Frau ihr Inkontinenzproblem hinter sich gelassen.
Zugegeben frei erfunden, aber keinesfalls praxisfremd. Es ist doch völlig absurd, wenn man den Umgang mit seiner Inkontinenz nur in schwarz/weiß betrachtet. Natürlich gibt es überhaupt keinen Grund dafür seine gesamte Verwandschaft, die Kollegen oder Hinz und Kunz darüber zu informieren. Wichtig ist zunächst erst einmal das man selbst kein Versteckspiel betreibt. Man stelle sich einmal vor ein Inkontinenter geht zu einem Facharzt für Urologie. Dann wird die ganze Praxis zusammenlaufen, die Sprechstundenhilfe auf jeden Fall erst einmal Handschuhe überziehen und der Arzt noch am Abend seiner Frau von diesem unglaublichen Ereignis berichten. Der Urologe wird darüber klagen, dass er nie diese Fachrichtung gwählt hätte, wenn er gewusst hätte das sich solche Menschen in seine Sprechstunde verirren. In einem Pressebericht in der überregionalen Presse wird natürlich am nächsten Tag umgehend über diese unglaubliche inkontinente Person, samt Adresse und Bild berichtet. Die Folge: Der inkontinete Mensch muss an den Rand der Stadt ziehen, in ein ehemaliges Lager für Lebrakranke. In diesem verbringt er den traurigen Rest seines Lebens.
Wir haben eine Frau als Bundeskanzlerin, einen Homosexuellen als Aussenminister, einen Menschen mit Migrationshintergrund als Vizekanzler und Wirtschaftsminister und trauen unserer Gesellschaft noch immer keinen offenen Umgang beim Thema Inkontinenz zu.
Wer Flecken auf Stühlen hinterlässt, hat kein Problem mit der Gesellschaft aufgrund seiner Erkrankung, sondern aufgrund der Flecken. Wer Kaugummi unter Tische klebt, oder Schokoladenhände am Sofa abwischt wird ähnliches erleben. Im Jahr 2011 muss kein inkontinenter Mensch nach Urin richen oder häufig Flecken an Kleidung oder Möbel hinterlassen. Wer dies tut, macht etwas falsch, auch wenn der vorgehaltene Spiegel manchmal ein Bild zeigt, was man nicht sehen möchte.
Gruss
Matti