Lieber Matti, Sebald und wer sonst mitliest,
ich muss mich entschuldigen und erklären: Meine Ablehnung gegenüber weiterführender Diskussion rührt aus Erfahrungen in anderen Foren (insbesondere pflegespezifische) her. Die dort jeweils entstandenen Flamewars wollte ich hier vermeiden. Sicherlich hat das mit der emotionalen Komponente des Themas, aber auch mit meiner teilwese nicht sehr diplomatichen Ausdrucksweise zu tun.
Für mich selbst ist das Thema ebenfalls sehr emotional. Ich habe diese Erfahrung in meiner Praxis oft gemacht und war immer wieder schockiert über die Haltung und Argumente meiner Kollegen, die ich doch eigentlich so schätze - auch fachlich. Für mich selbst konnte ich immer nur sagen, dass ich aus dem Bauch heraus, dass Gefühl habe, diese Behandlung ist einfach falsch.
Nun habe ich im Rahmen meines Studiums der Pflegewissenschaft die Gelegenheit genutzt, diese Situation ethisch aufzuarbeiten. Es geht also nicht darum zu sagen, wie böse doch die Schwester ist, sondern es geht "nur" um die ethische Begründung, warum es falsch ist.
In meiner Hausarbeit beleuchte ich natürlich auch die Perspektiven der anderen Akteure (Stationsleitung, Kollegen, Gesundheitspolitiker), die verschiedenen Verantwortungsebenen usw. Leider ist der Rahmen beschränkt und ich kann diese Aspekte nur anreisen. Aber es vermeidet hoffentlich den Eindruck, dass die Schwester als Schuldige dargestellt werden soll.
Auch wenn die Handlung an sich ethisch als schlecht zu werten ist (nach meiner Analyse jedenfalls), bedeutet es nicht, dass die Schwester ein böser Mensch oder eine schlechte Pflegekraft. Wir haben ja oft gar keine andere Möglichkeit. Das ist es, was uns so krank macht in diesem Beruf, den wir doch eigentlich so lieben.
So genug geschwaffelt.
Zu Sebald's Fragen:
Die Belastung der Kollegen (bzw. von mir) ist natürlich da. Doch sehe ich das nicht als Rechtfertigung für den Entzug der Würde. Ausscheidungen sind (auch) unser Job. Und dem Riskio dass er unkontrolliert ausscheidet, lässt sich auch anders, als mit einer Windel begegnen, auch wenn das Risiko sich dadurch nicht gänzlich ausschalten lässt. Leider stimmen oft die Rahmenbedinungen (enorme Arbeitsbelastung durch zu viele Patienten/Verantwortung, Zeitmangel, etc) hierfür nicht.
Eine Windel ist im Kontext der extremen Arbeitsbelastung (insbesondere Nachts) natürlich die einfachste Lösung. Versorge ich ohne Windel, muß ich auch die Ressourcen haben, den Patienten ggf. sofort entsprechend versorgen bzw. auf seine Hilfegesuche reagieren zu können. Muß ich ihn aus Ressourcenmangel erstmal ne Stunde in seinen Ausscheidungen liegen lassen, ist das auch nicht im Sinne des Erfinders.
Die Frage ob eine Windel tendenziell entwürdigent ist, ist schwierg zu beantworten. Grundsätzlich dürfte ein Patient es als entwürdigend empfinden. Die Frage ist aber die Intention (oder auch Indikation) dahinter und wie professionell die versorgende Pflegekraft damit umgeht. Bei einer dauerhaften Inkontinenz (kenne mich bei Erwachsenen nicht so aus) geht es einfach manchmal nicht anders. Es gibt keine Handlungsalternative.
Bei einem alk. Jugendlichen besteht keine dauerhafte oder überhaupt keine Inkontinenz. Und die Pflegekräfte begründen ihr Vorgehen nunmal meistens mit "einer Lektion erteilen" usw. Ich habe ja diese Diskussionen ständig führen müssen. Sie wollen ihm nicht helfen, sondern sich selbst (Arbeitserleichterung) und ihm ne Lektion erteilen (falsch verstandene Erziehungskompetenzen, oder auch Frustabbau). Hier wird die Würde sozusagen vorsätzlich gemindert. Ethisch (bzw. deontologisch bzw Pflichtethik) betrachtet wird der moralische Wert einer Handlung nach seiner Intention und Grundgesinnung des Handelnden bewertet.
Das beantwortet irgendwie auch Mattis Frage, nach der Entwürdigung durch "von oben bis unten ,,,,".
Natürlich ist das für den Patienten nicht würdevoll. Aber es geht nicht um die Folge des Würdeverlusts, sondern darum wer und warum (Intention, Gesinnung) dieser geschieht.
Im übrigen behandle ich diese Fragen/Argumente auch in meiner Arbeit.
Hoffe ich bin jetzt nicht mal wieder jemanden auf die Füße getretten.