Ach du liebe Zeit, liebe Gabi, nun bin ich aber doch sehr überrascht.
Hast du nicht geschrieben du wärst Pharmavertreterin? Dann ist dir doch klar wie ein Markt funktioniert. Natürlich ist es entscheidend wie oft (auch ein angestellter Arzt) eine Indikation für eine Implantation stellt. So ein Eingriff kostet ca. 40 000 Euro! Ich denke dem Arbeitgeber ist es nicht völlig egal, ob der Arzt beispielsweise eine Empfehlung zur Behandlung mit Flohsamen gibt oder konservative Therapieversuche gegenüber einer Sakralnervenstimulation durchführt. Bei den beiden ersten Formen ist der "Gewinn" gleich null.
Ich brauche dir doch sicher nicht erzählen wie viel die Pharmaindustrie investiert um beispielsweise ihre stark beworbenen und oftmals sehr teuren Kombinationsprodukte im Blickfeld der Kunden einer Apotheke zu platzieren. Warendruck erzeugt Kauf reiz, eine hohe "Kompetenz" (durch hohe Fallzahlen) ist eine gute Expertise. Ganz so "naiv" sollte man die Welt nicht betrachten.
Hier findet man beispielsweise einen sehr interessanten Artikel mit der Überschrift: "
Das lukrative Geschäft mit unnötigen Operationen
".
Damit will ich keinesfalls zum Ausdruck bringen, dass es nicht in bestimmten Fällen wie bei dir oder Uschu richtig sein kann eine Sakralnervenstimulation durchzuführen, aber hinterfragen darf man schon noch.
Der Titel dieses Threads lautet: " Wo sind alle InterStim-Träger wegen Obstipation?".
Die Antwort ist relativ einfach. 45 000 Implantationen wurden seit 1994 durchgeführt, zunächst ausschließlich zur Behandlung der neurogenen Blase, später auch zur Behandlung neurogener Stuhlinkontinenz. Eine Indikation für die Obstipation gibt es erst seit
einigen Jahren, die Fallzahlen sind noch sehr gering.
Eine kritische Hinterfragung einer Studie zum Thema:
"Sakralnervenstimulation bei chronischer Obstipation
" findet sich beispielsweise hier. Dabei sollte man sich einmal die Methodik, die Fallzahl und die Ergebnisse (vor allem im längeren Verlauf) genau anschauen.
@Uschu
Uschu schrieb:
Ich finde es gut, dass man diese Probleme mit zunehmender Anzahl von OP`s versucht zu beheben. Das erspart vielen Betroffenen einen unnötig langen Leidensweg und irreversible Nervenschäden.
So lange man nicht die vielen "Opfer" nach Operationen fragt, wird die Bilanz positiv ausfallen. Ich will dir einmal aus meinen persönlichen Erfahrungen berichten, den mein "Leidensweg" (ich bin allerdings kein "Leidender", dies ist mir fremd) begann durch die Operation zur Sakralnervenstimulation.
Im Jahr 2002 war die SNS noch nicht weit verbreitet in Deutschland. Es gab meines Wissens nicht mehr als 3-4 Kliniken in ganz Deutschland die diese Operation durchführten.
Die wohnortnähste war die Uni Mainz. Nachdem bei mir eine Blasenhalsincesion durchgeführt worden war (ein Wahnsinn für einen solch jungen Menschen, wenn er männlich ist), meine Probleme aber nicht reduziert wurden, wurde mir ein suprapubischer Katheter gelegt. Ich habe damals schwer körperlich gearbeitet (Möbelmontage). Wahrscheinlich hatte ich auch aus diesem Grund ständige Infektionen in der Blase und um die Fistelstelle.
Mir wurde von der SNS erzählt und mein Leidendruck war sehr hoch. Ich habe mich in Mainz vorgestellt. Umfangreiche Voruntersuchungen und eine gründliche Anamnese wurden durchgeführt. Ich wurde als Kandidat für eine Teststimulation befunden.
Einige Wochen später sollte die Teststimulation stattfinden. Dieser Termin wurde gleich dreimal sehr kurzfristig verschoben. Nach Monaten rückte ich dann in der Klinik ein, nur um wenige Stunden später zu erfahren dass die Teststimulation erneut verschoben werden musste. Meinen Arbeitgeber hat dieses ständige hin und her natürlich außerordentlich "gefreut".
Irgendwann kam es dann doch zur Teststimulation. Diese hatte ein sehr gutes Ergebnis. Die Ärzte bestanden aber auf eine erneute Testphase, einige Wochen später. Auch dieser Termin wurde kurzfristig zweimal verschoben. Das Ergebnis war wieder positiv und sprach für eine Implantation.
Am Vorabend der Operation wurde ich telefonisch gegen 21 Uhr darüber informiert dass die Operation abgesagt wäre. Nicht etwa verschoben, sondern gänzlich abgesagt!
Der Grund: Die Klinik arbeitete auf Forschungsbasis und hatte schlichtweg keine Kostenzusage. Darüber hatte mich niemals jemand unterrichtet.
Mit den guten Ergebnissen der Teststimulation in der Tasche wollte ich mich damit allerdings nicht abfinden. Der Griff zum berühmten Strohhalm schien mir mehr als nahe.
Mein Weg führt mich nach Kiel in die dortige Uni Klinik. Kiel ist hunderte Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Alle Unterlagen wurden zur Verfügung gestellt. Aufgrund dieser Ergebnisse sollte die Implantation erfolgen. In Kiel angekommen wollte davon niemand mehr etwas wissen. Eine erneute Testphase wäre unumgänglich. Bei positiven Ergebnis sollte direkt Implantiert werden. Zu Erklärung vielleicht noch: Die Teststimulationen wurden zu dieser Zeit immer stationär über die gesamte Testphase durchgeführt.
Das Ergebnis war wie in Mainz, positiv. Ich musste dennoch abreisen, weil eine zeitnahe Implantation nicht möglich sei.
Einige Wochen später sollte dann die Implantation stattfinden. Stattdessen erfolgte die vierte Teststimulation! Aufgrund des erneut positiven Befundes wurde dann im Anschluss endlich implantiert.
Es folgte eine fünfwöchige Reha in Bad Wildungen. In den ersten Wochen stand die Reha auf der Kippe, weil sich eine Körpertemperatur von 41 Grad einstellte und erhebliche Abstoßungsreaktionen stattfanden.
Nach gut drei Monaten hatte sich die Narbe noch immer nicht völlig geschlossen und ich verlor täglich jede Menge Wundflüssigkeit. Dies alles hat höchstwahrscheinlich dazu geführt das sich der Stimulator gedreht hatte. Es musste eine Korrektur OP durchgeführt werden.
Nach einigen weiteren Wochen drehte sich der Stimulator abermals. Es erfolgte eine Versetzung des Stimulators vom Gesäß in den Bauchraum. Größter Fehler dabei war wohl das gleiche Gerät zu nutzen. Man hat die Entzündung gleich mit in den Bauchraum „operiert“.
Auch im Bauchraum wollte die Narbe nicht heilen. Zudem stellte sich eine Fistel vom Gesäß bis zum Bauch dar. Aus dieser lief unentwegt Wundsekret. Nach zwei, drei Monaten hat sich der Stimulator auch im Bauchraum gedreht. Ein Termin zur erneuten Korrektur OP wurde vereinbart, diesmal in Mannheim, weil wesentlich wohnortnäher.
Zu diesem Termin kam es, wie ursprünglich geplant, aber nicht mehr, weil mir mitten in der Nacht die Narbe aufgeplatzt war und die Kabel des Stimulators aus meinem Bauch schauten.
Noch am gleichen Tag wurde ich Notoperiert und der Stimulator wurde komplett entfernt. Das Gerät war für einen Widereinsatz nicht mehr geeignet.
Kurze Zusammenfassung:
- als Fußgänger zum ersten Termin erschienen.
- 4 Vollnarkosen wegen der Teststimulation.
- 5 Vollnarkosen wegen Implantation, Revidieren und Explantation.
- vernarbt am Kreuzbein, Gesäß und im Bauchraum.
- schmerzen, schmerzen, schmerzen…
- als Rollstuhlfahrer vom letzten Termin nach Hause (ein solcher Marathon hat bei mir als MS Patient seine Folgen hinterlassen).
Im Jahr 2003 wurde ich Erwerbsunfähigkeitsrentner, mit 32 Jahren!
Ich ganz persönlich glaube also nicht daran, dass "vielen Betroffenen ein unnötig langer Leidensweg und irreversible Nervenschäden durch eine Operation erspart" bleiben, zumimndest trifft dies nicht auf mich zu.
Keine Nebenwirkungen? Kann ich so nicht bestätigen!
Bei mir wurde im Übrigen eine sakrale Deafferenation (SDAF) und Implantation eines sakralen Vorderwurzelstimulators (SARS) durchgeführt. Dies ist noch einmal ein wenig anders. Dabei wird die Nervenversorgung unwiderbringlich bewusst durchtrennt. Folge: Stimulator weg = völlige Harninkontinenz.
Die Alternative hätte im Übrigen aus Selbstkatheterismus bestanden. Darüber hat mit mir aber kein Arzt gesprochen.
Matti